Stoffentwicklung
„Ach du meine Güte, das Ding atmet, vielleicht kann es sogar denken, was zur Hölle soll ich jetzt bloß als Nächstes tun?“
Gut möglich, dass Victor Frankenstein genau diese Frage durch den Kopf schießt, als er nach monatelanger Arbeit in seinem Labor die zusammengenähten Leichenteile zum Leben erweckt und das Monster plötzlich die wässrig gelben Augen aufschlägt. Kurz darauf flüchtet Frankenstein aus seiner Wohnung, lässt die Kreatur zurück und Frankensteins persönliche, in wenigen Sekunden getroffene Entscheidung bewirkt, dass sich das eigentlich gutmütige Monster zum Bösen wandelt und aus Verzweiflung und Einsamkeit den ersten Mord begeht.
Was aber wäre passiert, wenn die Engländerin Mary Shelley, die den Schauerroman 1816 im Alter von 19 Jahren schrieb, zu einer ganz anderen Entscheidung gelangt wäre und Frankenstein als einen höchst fürsorglichen Menschen charakterisiert hätte, der sich seiner Verantwortung nicht entzieht, sondern sich um das abgrundhässliche Monster kümmert, möglicherweise sogar liebgewinnt, die Kreatur versteckt, bis Frankensteins Verlobte es zufällig im Keller entdeckt und sein bis dahin wohl gehütetes Geheimnis verrät?
Wir wissen nicht, ob aus einer solchen Figurenanordnung ein Bestseller der Weltliteratur entstanden wäre, ganz ausgeschlossen ist es aber auch nicht.
Das Erfolgsgeheimnis der jungen Schriftstellerin bestand wohl darin, dass es ihr weniger um Schockeffekte, als um die Seele des Monsters ging. Und ich könnte mir vorstellen, dass Mary Shelly während des Schreibprozesses selbst nicht so genau wusste, wie sich das Geschehen entwickeln würde. Mit großer Wahrscheinlichkeit aber vertraute sie ganz auf den archetypischen Konflikt zwischen ihren höchst unkonventionell angelegten Hauptfiguren. Bis ihr möglicherweise klar wurde, dass ihr weltweit erster Science-Fiction Roman gar nicht um die Frage der „übernatürlichen Existenz“ kreist, sondern sich im Kern mit den moralischen Konsequenzen befasst, die sich aus der Erschaffung eines künstlichen Menschen ergeben.
Geschichten sind wie Bruchstücke von Fossilien, die entdeckt, freigelegt und möglichst unbeschädigt aus dem Boden gehoben werden. Die Entstehung eines lebendigen, zwingenden PLOTs – dem Kontinent der Intuition, dem Tummelplatz der Figuren – funktioniert nicht durch schematische Konstruktion. Es geht eher darum, nicht zu wissen, wie sich das verfluchte Ding entwickelt und nicht von den Figuren zu verlangen, dass sie sich gefälligst so verhalten, wie ich mir das als Autorin vorgestellt habe oder ihnen gar beim Freischaufeln ihres Dilemmas behilflich zu sein. Sondern mitten im Geschehen zu verharren, im Auge des Sturms. Bis die Figuren selbstständig und frei auf ihre - im wahrsten Sinne des Wortes – unvorstellbare Weise handeln und so zum Leben erwachen.
„Originalität zu definieren, hieße, sie zu etwas Profanem zu machen. Man kann sie nicht greifen, man spürt sie einfach.“
— Lajos Egri
Auf dem Weg hinunter in den Schreibstollen ist der Werkzeugkoffer stets dabei. Im Gegensatz zu dem Chaos, das mich in den nächsten Wochen erwartet, ist dieser bestens sortiert und mit allem ausgestattet, was sich im Laufe eines Autorinnenlebens im Bücherregal so ansammelt. Gemeint sind die zwei Meter Drehbuchratgeber - darunter fast alles, was in den letzten Jahrzehnten an klugen Theorien auf den Markt gekommen ist. In jedem dieser Ratgeber findet sich ein ähnlich prall gefüllter Werkzeugkoffer, der das Schreiben von Filmen zu Recht als Handwerk kennzeichnet. Sogar über die Kunst des Drehbuchlesens (Oliver Schütte) gibt es ein interessantes Werk. Darin werden dramaturgische Kenntnisse vermittelt, über Aufbau, diverse Akt-Strukturen und dreidimensionale Figuren. Letztere hat Lajos Egri in seinen auch international gefeierten Standardwerken Dramatisches Schreiben und Literarisches Schreiben in strahlender Klarheit analysiert. Die gesamte DNA seiner Erkenntnisse stecken in meinem persönlichen Werkzeugkoffer und können gerne im Original nachgelesen werden.
Doch bevor das final draft Programm auf meinen PC aufploppt und es an die erste formatierte Drehbuchfassung geht, muss zunächst ein überzeugender Prosatext verfasst werden. Ein One-Pager, Exposé oder Konzept, die in irgendeiner Weise Begeisterung hervorrufen sollen und Originalität versprechen. Also setze ich mich vor den Geröllhaufen, der sich in der Mitte des Stollens auftürmt und packe erstmal meine Dose mit Apfelschnitzen aus. Der Geröllhaufen ist die Geschichte, die auf mich wartet. Stein für Stein lerne ich sie kennen – und sie mich.
Im Schreibstollen bin ich allein mit den zehntausend Bildern und Ideen, die unterschiedliche Formen annehmen und im nächsten Moment schon wieder zu Staub zerfallen. Nun heißt es Freude an der Anstrengung zu entwickeln, die das Aufspüren von Originalität bedeutet. Aber irgendwann geschieht etwas sehr Seltsames. Dann entsteht etwas und wächst allmählich zu einer Geschichte heran.
Eine Welt mit vielschichtigen Charakteren und einer komplexen Handlung zu erschaffen, ist nicht das Ergebnis einer scharfsinnigen Ratio. Der Verstand ist bekanntermaßen begrenzt, wenn es um das Ausgraben einer guten Geschichte geht. Der eigentliche schöpferische Prozess findet im Unterbewusstsein statt. Um offen zu sein für Neues, kommt es darauf an, den Filter im Kopf zu lockern, ohne den Verstand zu verlieren. So halte ich mich selbst permanent – Seite für Seite - in Spannung. Bis zum Ende hin, wo ein allerletzter Twist erfolgt, der im besten Fall die gesamte Geschichte in einem ganz anderen, gänzlich unerwarteten Licht schimmern lässt.