Recherche
vor dem Schreiben

„Recherchen können mehr Zeit in Anspruch nehmen als jede andere Phase des Drehbuchschreibens.“ 

— Linda Seger

Wer über Menschen schreibt, beobachtet, reflektiert und analysiert ständig deren Verhalten - im besten Fall auch das eigene und speichert es im emotionalen Gedächtnis ab. 

Menschen charakterisieren sich über den Ort, ihre Umgebung, ihre gesellschaftlichen, ethnischen, religiösen oder kulturellen Zugehörigkeiten. Irgendwann erinnert sich das gut trainierte Unterbewusstsein an eine bestimmte Situation und schon entsteht ein inneres Bild, das genau diese erlebte Situation widerspiegelt. Und da jegliche Art von Gefühl – negativ wie positiv – mit einer bestimmten Erfahrung verknüpft ist und einen Abdruck in unserer Psyche hinterlässt, entwickeln wir im Laufe unseres Lebens geschickte Strategien, um die positiven Erfahrungen als persönliche Erfolge zu verbuchen und die Negativen auszublenden. 

Die Selbstreflexion ist ein Teil dieser allgemeinen Recherche, gerade was die schmerzhaften Erinnerungen anbelangt. Hier lagern all unsere widersprüchlichen Gefühle, um mit der Schaffung einer spannenden Figur zu beginnen. Dennoch reicht dieses Allgemeinwissen oft nicht aus. Um zu verstehen, was eine Figur antreibt, die mit der ihr vertrauten Welt bricht, um sich beispielsweise dem radikalen Islam anzuschließen, brauche ich mehr Informationen.

***

Das Eintauchen in fremde Welten oder andere Zeitepochen geht mit dem Sammeln und Sortieren von vielen unterschiedlichen Quellen einher. Die einen lieben es, eine solche Entdeckungsreise zu unternehmen, andere fühlen sich beim Schreiben fiktionaler Stoffe dadurch eher blockiert. Für mich ist die gezielte Recherche Teil des Schöpfungsprozesses, so vielfältig wie der „Stoff“, den ich auf diese Weise immer besser kennenlerne, um irgendwann die eigene, frei erfundene Vision entwickeln und schreiben zu können. 

Anfangs kann sich dieser Berg aus Studien, Büchern, Bildbänden, Internetsuchabfragen, persönlichen Gesprächen mit Zeitzeugen oder Fachberatern zu einer unbeherrschbar wirkenden Drohkulisse auftürmen und Angst einjagen. Immer wieder habe ich es erlebt, dass mich die Materialfülle schier überwältigt hat - und auch hier braucht es eine gewisse Erfahrung, um die notwendigen Informationen für die eigenständige Geschichte aus dem ganzen Wust herauszufiltern. Dabei hilft es, sich klarzumachen, dass all die gezielten Recherchen lediglich dazu dienen, sich mit freiem Geist halbwegs sicher in dieser unbekannten Welt bewegen zu können, um den Anspruch auf Authentizität einzulösen. 

Recherche ist Dünger, Humus, fette Erde und gestaltet sich bei jedem Projekt anders. Keines meiner bisherigen Projekte ist ohne gezielte Recherche ausgekommen. Dabei habe ich festgestellt, dass mich alles mehr interessiert, was ich nicht kenne - und aufgrund der Beschäftigung mit der jeweiligen Thematik unbedingt kennenlernen möchte. 

***

Die gezielte Recherche bei Brüder (2017), einem Mehrteiler, der im Kern von zwei unterschiedlichen Lebenslinien handelt, ist ein gutes Beispiel für sinnvoll investierte Zeit in den damit verbundenen Aufwand. Angefangen hat alles relativ harmlos, nämlich mit der Zeitungsreportage über einen deutschen Vater, der seine beiden Söhne an den radikalen Islam verloren hatte. Die beiden jungen Konvertiten reisten 2014 nach Syrien aus, um sich dem internationalen Terrornetzwerk des Islamischen Staats anzuschließen und in der besetzten Hauptstadt Ar- Raqqah für die Errichtung eines Kalifats zu kämpfen. Gleichzeitig strömten syrische Flüchtlinge zu Hunderttausenden nach Europa, um dem Krieg im eigenen Land zu entkommen. 

Diese verstörende Parallelität der Ereignisse hat mich beschäftigt und nicht mehr losgelassen.  Und davon wollte ich erzählen. So handelt Brüder von dem deutschen Studenten Jan aus gutbürgerlichen Verhältnissen, der eigentlich alles hat, wovon die meisten träumen und sich dennoch radikalisiert. Erst konvertiert er heimlich zum Islam und wird Teil der islamistisch-salafistischen Glaubensgemeinschaft mitten in Deutschland, die den Gottesstaat predigen und in dem wesentliche Grundrechte und Verfassungspositionen nicht mehr gelten. Dann überredet er seinen syrischen Mitbewohner Tariq, der als Assistenzarzt in einer Klinik arbeitet und um seine Familie im eingeschlossenen Aleppo bangt, nach Syrien zu fahren und dessen Eltern und Geschwister rauszuholen. In Wahrheit nutzt Jan die Gelegenheit zum IS überzulaufen und Tariq wird - nach geglückter Rückkehr mit der Familie - vom deutschen Verfassungsschutz angeworben, um Jan ausfindig zu machen.

Der BERG meiner gezielten Recherchen schien von Tag zu Tag höher zu werden. Und wie sollte ich diese gewaltige Fülle von Stoff jemals bändigen, um daraus einen spannenden und hochaktuellen Politthriller zu machen? Manchmal sind es einzelne Begegnungen und einzelne Sätze, die im Gedächtnis hängenbleiben und dabei helfen, die erzählerische Vision nicht aus den Augen zu verlieren. Einer dieser Leitsätze, die mich den Berg hochgetragen haben, stammt von der Extremismus Expertin Claudia Dantschke, die ich mehrmals interviewen durfte:

„Wer sich radikalisiert, protestiert. Auch gegen die Entfremdung seiner Seele." 

All die persönlich geführten Gespräche und Interviews mit deutschen Konvertiten in Mönchengladbach, Salafisten Aussteigern in Marburg und Stuttgart, Islampredigern in Hamburg, Sozialwissenschaftlerinnen und Experten für IS Ausreiser und Rückkehrer in Berlin, syrischen Flüchtlingsfamilien in Baden-Württemberg, dem Bundesamt für Verfassungsschutz in Köln und dem LKA in Stuttgart, haben mich nicht nur mit äußerst wertvollen Informationen versorgt. Sondern mir auch das entscheidende, universell gültige Gefühl vermittelt, um Brüder überhaupt schreiben zu können. Im Kern geht es um die Suche nach Identität und den Wunsch nach Zugehörigkeit. Beides, sowohl das Studium der Fachliteratur über die salafistische Szene in Deutschland und die Radikalisierungsprozesse deutscher Jihadisten, als auch die persönlichen Begegnungen, haben mich ein Stück klüger gemacht und ist als Kernwissen in die Geschichte eingeflossen.

***

Recherche kann auch bedeuten, den Schauplatz des späteren Geschehens zu erforschen, am besten einige Zeit Vorort zu verbringen. Menschen leben in keinem Vakuum, sie stehen immer in Interaktion mit ihrer nächsten Umgebung. Es macht einen Unterschied, ob sich die Figuren durch das sumpfige Flachland von South Louisiana bewegen, vorbei an brachliegenden Erdölförderanlagen, die vom längst vergangenen Wohlstand erzählen - wie bei der auch visuell beeindruckend erzählten Thrillerserie True Detective. Oder ob ein smarter sexsüchtiger Erfolgsmann im besten Alter und super Job mitten in New York wahllos Frauen verführt, wie bei der Kino Großstadtballade Shame

Bei der Entwicklung meiner aktuellen Drama/Thriller Serie Two Sides of the Abyss wusste ich schon sehr früh, dass diese Geschichte nicht in einer der üblichen Metropolen, sondern in dem filmisch noch weitgehend unentdeckten Wuppertal verortet sein muss. Der größten Stadt des Bergischen Landes im Westen Deutschlands, die aus mehreren zusammengelegten Dörfern besteht - ein schmales 20 Kilometer längliches Tal, durch das sich die Wupper windet. Ich war und bin fasziniert von der visuellen Strahlkraft und dem morbiden Charme dieser ehemaligen Textilindustriestadt. Von der Schwebebahn, die über der Talachse und dem Fluss schwebt, den übereinander geschichteten Häuserfassaden, die sich steil an den Hängen hochziehen und den verfallenen Fabrikflächen, Opfer des Strukturwandels. 

Und dann habe ich an der Peripherie und rein zufällig einen riesigen Werkstoffhof entdeckt, Kontakt zu den Gewerbetreibenden aufgenommen, die mich freundlicherweise über das weitläufige Gelände geführt und Einblick in ihre Werkhallen gestattet haben. Hier wird unter anderem der gesamte Elektromüll aus Nordrhein-Westfalen abgeladen und teilweise recycelt. Die Müllwerker, wie die Arbeiter offiziell bezeichnet werden, zerlegen und sortieren all die weg geworfenen Waschmaschinen, Computer und Mikrowellen, die oft noch funktionieren oder mit kleinen Reparaturen instandgesetzt werden könnten. 

Der Werkstoffhof ist zum Arbeitsplatz meines Protagonisten geworden. Hier kommen Menschen mit allen möglichen Biografien zusammen und verrichten eine Arbeit, die als Ergebnis unseres Konsumverhaltens selten in Filmen zu sehen ist.  Es lohnt sich, auf die Suche nach besonderen Schauplätzen zu gehen, wo der Handlungsort nicht nur reine Kulisse darstellt, sondern den Blick auf die jeweilige Figur schärft. 

Trotz der Vielfalt von gezielten Recherchen kommt aber irgendwann der Moment, den Berg hinter sich zu lassen und die Welt der Fiktion zu betreten. Wenn der Stoff bis dahin gut inhaliert wurde, ist der Phantasie der Weg geebnet, um neues, bisher unbekanntes Terrain zu betreten.